Hauptcharakteristika von Anfeindungen im Netz

So un­ter­schied­lich die An­grif­fe über das In­ter­net auf den ers­ten Blick wir­ken, gibt es doch im­mer wie­der­keh­ren­de struk­tu­rel­le Ähn­lich­kei­ten, die sich bei al­len di­gi­ta­len An­grif­fen auf­fin­den las­sen. Um die Me­cha­nis­men von An­fein­dun­gen im In­ter­net bes­ser zu ver­ste­hen, wer­den in die­sem Teil die­se struk­tu­rel­len Ähn­lich­kei­ten he­raus­ar­bei­tet und be­schrei­ben. Als zen­tra­le Haupt­cha­rak­te­ris­ti­ka von An­grif­fen im Netz wer­de ich drei her­vor­he­ben: die Ent­gren­zung und die Un­be­rech­en­bar­keit der An­grif­fe so­wie die Macht­lo­sig­keit der Op­fer.

Die Ent­gren­zung der An­grif­fe

Die Ent­gren­zung der di­gi­ta­len An­grif­fe zeigt sich auf ver­schie­den­en Ebe­nen. Di­gi­ta­le An­grif­fe kön­nen in Be­zug auf Raum, Zeit, Per­son und in Form der Här­te als ent­grenzt be­schrie­ben wer­den.

Dimensionalisierung der Entgrenzung von digitalen AngriffenDimensionalisierung der Entgrenzung von digitalen Angriffen, eigene Darstellung, Lina Thee.

Räum­li­che Ent­gren­zung

Die räum­li­che Ent­gren­zung zeigt sich auf zwei ver­schie­de­ne Ar­ten: Die ers­te be­trifft das Ver­hält­nis zwi­schen Täter_in und Op­fer. An­fein­dun­gen kön­nen die Op­fer tref­fen, von Per­so­nen, die am an­de­ren En­de der Welt le­ben und ei­gent­lich kei­ner­lei Über­schnei­dun­gen oder Ver­bin­dun­gen zum Le­ben des Op­fers auf­wei­sen müs­sen. Die räum­li­chen und/oder le­bens­welt­li­chen Über­schnei­dun­gen, die vor dem Web 2.0 ge­ge­ben sein muss­ten, sind nun auf­ge­ho­ben.

Die zwei­te Art der räum­li­chen Ent­gren­zung be­trifft die ver­rin­ger­ten Op­tio­nen des Op­fers, auf die An­grif­fe rea­gie­ren zu kön­nen. Durch die to­ta­le Prä­senz der di­gi­ta­len Ver­netz­ung kön­nen die Op­fer sich den An­grif­fen räum­lich nicht wie zu­vor ein­fach ent­zie­hen. Wur­de zum Bei­spiel ein Kind frü­her in der Schu­le von den Mit­schü­ler_in­nen aus­ge­grenzt und be­lei­digt, konn­te es im schlimms­ten Fal­le die Schu­le wech­seln oder um­zie­hen. So ei­ne räum­li­che Flucht ist heut­zu­ta­ge nicht mehr mög­lich.

Selbst ein kom­plet­ter di­gi­ta­ler Rück­zug, wel­cher für vie­le Men­schen mitt­ler­wei­le un­denk­bar ge­wor­den ist, wä­re nur mög­lich, wenn kein an­de­rer Mensch In­for­ma­tio­nen über die Per­son im In­ter­net an­gä­be (was häu­fig zum Bei­spiel durch den Up­load von Fo­tos der Per­son bei Face­book oder auf Be­wer­tungs­sei­ten für z.B. Do­zent_in­nen bei Por­ta­len wie www.mein­prof.de ge­schieht).

Zeit­li­che Ent­gren­zung

Auch zeit­lich gibt es in der di­gi­tal ver­netz­ten Ge­sell­schaft kei­ne Rück­zugs­rä­ume mehr. Es sind nun die Mög­lich­kei­ten von per­ma­nen­ten An­grif­fen ge­schaf­fen und so­mit muss es kei­ne durch die Rah­men­be­din­gun­gen be­ding­ten Pau­sen mehr von Aus­ein­an­der­set­zun­gen ge­ben. Das ge­mobb­te Kind bei­spiels­wei­se hat­te frü­her noch Zei­ten au­ßer­halb der Schu­le, in de­nen es nicht an­ge­grif­fen wur­de. Da ein Groß­teil der Schü­ler_in­nen durch ver­schie­de­ne di­gi­ta­le so­zia­le Netz­wer­ke mit­ein­an­der ver­bun­den ist, kön­nen Be­lei­di­gun­gen das Op­fer da­durch zu je­der Zeit tref­fen.

Ne­ben dem zeit­li­chen As­pekt der Ent­gren­zung, dass die An­grif­fe per­ma­nent er­fol­gen kön­nen, gibt es das Pro­blem, dass An­grif­fe und Dis­kus­sio­nen zu ei­nem The­ma für im­mer exis­tie­ren kön­nen und nicht wie Ge­schich­ten, die frü­her von Per­son zu Per­son er­zählt und ver­ges­sen wur­den, mit der Zeit ver­schwin­den („Das In­ter­net ver­gisst nichts.“).

Per­sön­li­che Ent­gren­zung

Die per­sön­li­che Ent­gren­zung zeigt sich so­wohl in der mög­li­chen räum­li­chen und le­bens­welt­li­chen Dis­tanz von Tä­ter_in und Op­fer (Über­schnei­dung zur räum­li­chen Ent­gren­zung) als auch in der Mög­lich­keit der völ­li­gen Ent­per­so­ni­fi­zie­rung von An­grif­fen. An­fein­dun­gen sind nicht mehr an (be­kann­te) Per­so­nen im Um­feld ge­bun­den. Op­fer kön­nen ano­nym an­ge­grif­fen wer­den, was da­zu führt, dass die Tä­ter_in­nen für die be­trof­fen­en Per­so­nen oft schwer greif­bar und nicht ei­ner phy­si­schen Per­son zu­or­den­bar sind.

Des Wei­te­ren kön­nen An­grif­fe ent­per­so­na­li­siert durch die Tech­nik von LOIC (Low Or­bit Ion Can­non) durch­ge­führt wer­den. Hier­bei stellen Nut­zer_in­nen ih­ren Rech­ner ei­nem Netz­werk für Blo­ckie­run­gen von Web­sei­ten zur Ver­fü­gung. Teil­wei­se stel­len Nut­zer_in­nen ih­re Rech­ner da­für frei­wil­lig be­reit, in letz­ter Zeit gab es al­ler­dings auch ver­mehrt An­grif­fe, wo­bei Rech­ner un­be­merkt von ih­ren Be­sit­zer_in­nen da­für be­nutzt wur­den. Durch tau­send­fa­che An­fra­gen sind die Web­sei­ten über­las­tet und zeit­wei­se nicht mehr er­reich­bar. Eine pro­mi­nen­te Ak­tion war bei­spiels­wei­se die Blo­ckie­rung der Web­sei­te von Scien­to­lo­gy durch Ano­ny­mous.[1] So­mit sind An­grif­fe nicht mehr an ein­zel­ne, er­kenn­ba­re Per­so­nen ge­bun­den und müs­sen wie beim Bei­spiel der LOIC-Tech­nik nicht ein­mal ei­gen­en per­sön­li­chen Im­pul­sen fol­gen.

Ge­fühl­te Ent­gren­zung in Be­zug auf der Här­te der An­grif­fe

Ein wei­te­rer As­pekt der Ent­gren­zung liegt in der Här­te der An­grif­fe. Teil­wei­se gin­gen ver­ba­le di­gi­ta­le An­grif­fe von Ha­tern so weit, bis das Op­fer voll­kom­men zer­stört war und die An­grif­fe zum Sui­zid führ­ten.

Bru­ta­li­tät, die in der Ge­sell­schaft auch off­line vor­han­den ist, wird im Netz ge­spie­gelt. Al­ler­dings ist das Spie­gel­bild der Ge­sell­schaft durch meh­re­re Fak­to­ren ver­zerrt. Ein Fak­tor, der die­se Ver­zer­rung be­dingt, ist die von Eli Pari­ser be­schrie­be­ne „Fil­ter Bub­ble“ des In­ter­nets.[2] Face­book und Google per­so­na­li­sieren die an­ge­zeig­ten In­hal­te; das be­deu­tet, je­de_r be­kommt – ab­hän­gig von be­reits hin­ter­las­sen­en Spu­ren im Netz, wie be­reits ge­such­ten Links, „Likes“ bei Face­book oder Stand­ort­in­for­ma­tio­nen – un­ter­schied­li­che In­hal­te an­ge­zeigt. Pariser warnt vor der Ge­fahr, dass die User_in­nen da­durch nur noch die ei­ge­ne Mei­nung be­stä­ti­gen­de Bei­trä­ge an­ge­zeigt wer­den und sich so­mit in ei­ner in­for­ma­tio­nel­len Fil­ter­bla­se be­we­gen wür­den. Ein Aus­tausch zwi­schen ver­schie­den­en Mei­nun­gen und Kul­tu­ren wird so schwie­ri­ger mög­lich und die ei­ge­ne Mei­nung wird schnell als Mehr­heits­mei­nung ge­se­hen.

Des Wei­te­ren sind di­gi­ta­le An­grif­fe zum ei­nen bes­ser sicht­bar und nach­voll­zieh­bar und las­sen sich zum an­de­ren viel ein­fa­cher an ein gro­ßes Pu­bli­kum ver­brei­ten. Da vie­le An­grif­fe schrift­lich oder durch Bil­der im Netz auf­tre­ten, las­sen sie sich gut do­ku­men­tie­ren und durch das In­ter­net ein­fach oh­ne ei­ne zu­sätz­li­che In­sti­tu­tion wei­ter ver­brei­ten. Da­durch be­steht heu­te die Mög­lich­keit, An­fein­dun­gen welt­weit zu tei­len und Re­so­nanz zu er­lan­gen bei Fäl­len, die frü­her in grö­ße­rem Rah­men kei­ne Be­ach­tung ge­fun­den hät­ten. Die­se ge­nann­ten As­pek­te ber­gen die Ge­fahr, die Ge­ge­ben­hei­ten ver­zerrt wahr­zu­neh­men. In Be­zug auf die Ge­walt­tä­tig­keit und Bru­ta­li­tät be­deu­tet das ei­ne ge­fühl­te Ver­schlim­me­rung der Si­tua­tion, da sich be­son­ders rei­ßeri­sche und ex­tre­me Aus­sa­gen leicht wei­ter­ver­brei­ten und eh­er im Kopf blei­ben. Die hier vor­ge­stell­te Stu­die von Buc­kels et al. zeigt, dass die sa­dis­ti­sche Ader der Trol­le auch im wirk­li­chen Le­ben vor­han­den ist. Zwar ist noch nicht er­forscht, in­wie­weit das In­ter­net die­se Ader in ih­rer Ent­wick­lung un­ter­stützt oder so­gar aus­löst, aber das Aus­le­ben ist on­line frag­los ein­fa­cher um­zu­set­zen.

Durch die Ano­ny­mi­tät und den feh­len­den Blick­kon­takt mö­gen ei­ni­ge Hem­mun­gen im In­ter­net (im po­si­ti­ven wie ne­ga­ti­ven) fal­len, man muss kein Ge­sicht zei­gen, so­zia­le Sank­tio­nen fal­len weit­ge­hend weg. Gren­zen aus­zu­tes­ten ist im In­ter­net ein­fa­cher mög­lich als off­line. Um et­was zu be­wir­ken, muss kein in der Rea­li­tät fass­ba­rer Auf­wand be­trie­ben wer­den. Wür­de man als Pro­test­form zum Bei­spiel pla­nen, ei­nen Farb­beu­tel auf ei­ne Wer­be­ta­fel zu wer­fen, müss­te ne­ben der Be­schaf­fung des Beu­tels auch noch die An­fahrt, das Ri­si­ko des Er­wischt­wer­dens usw. als Kos­ten der Ak­tion mit ein­be­rech­net wer­den. Ei­ne Kom­men­tie­rung oder Dif­fa­mie­rung im Netz geht ein­fa­cher und schnel­ler. Dies kann – ver­stärkt durch die Be­schleu­ni­gung, die die per­ma­nen­te Ver­net­zung mit sich bringt – auch zu un­be­dach­ten und teil­wei­se stär­ke­ren Re­ak­tio­nen und Kom­men­ta­ren fü­hren.

Die ent­grenz­te Ver­net­zung führt auch da­zu, dass die Hür­den für ei­ne Kon­takt­auf­nah­me sehr viel ge­rin­ger ge­wor­den sind. Da­durch kann je­de Ein­zel­per­son die ei­ge­ne Mei­nung ver­brei­ten, was da­zu führt, dass al­te Macht­struk­tu­ren ero­die­ren. Wa­ren Ein­zel­per­so­nen bzw. Kun­d_in­nen vor der Ver­brei­tung des Web 2.0 ge­gen­über In­sti­tu­tio­nen oder Un­ter­neh­men re­la­tiv macht­los, ha­ben sie heu­te durch die Ver­net­zung stark an Macht ge­won­nen. So kann ei­ne un­be­dach­te Hand­lung ei­nes Mit­glieds ei­nes Un­ter­neh­mens das gan­ze Image ei­ner Mar­ke be­ein­flus­sen und Feed­back er­reicht die In­sti­tu­tio­nen durch das ent­grenz­te Netz in Echt­zeit.

Die Un­be­rech­en­bar­keit der An­grif­fe

Die zwei­te zen­tra­le Cha­rak­ter­ei­gen­schaft von di­gi­ta­len An­grif­fen ist die Un­be­re­chen­bar­keit und die da­mit ein­her­ge­hen­de Un­vor­her­seh­bar­keit der di­gi­ta­len An­grif­fe. Dies ist vor al­lem durch die an­ge­leg­te Netz­werk­struk­tur des kom­plex­en Sys­tems In­ter­net be­dingt.

Sys­te­me kön­nen un­ter­schied­li­che Aus­prä­gun­gen auf­wei­sen. Pe­ter Kru­se galt als Vi­sio­när für die ver­netz­te Ge­sell­schaft und be­fass­te sich in­ten­siv mit Ord­nungs­bil­dungs­pro­zes­sen im Ge­hirn und dem Um­gang mit kom­plex­en Sys­te­men. Er über­trug die na­tur­wis­sen­schaft­li­che Theo­rie dy­na­mi­scher Sys­te­me, die auch als Chaos- bzw. Selbst­or­ga­ni­sa­tions­theo­rie be­kannt wur­de, auf ge­sell­schaft­li­che Be­rei­che und Sub­kul­tu­ren wie Un­ter­neh­men oder das In­ter­net. Um sei­nen Vor­schlag für den Um­gang mit kom­plex­en Sys­te­men zu ver­mit­teln, be­schrieb er da­für ver­schie­de­ne For­men von Sys­te­men.[3]  Kru­se un­ter­teilte Sys­te­me an­hand ih­rer Struk­tur und Zu­stän­de. Die Struk­tur ei­nes Sys­tems kön­ne ein­fach oder kom­plex sein, der Zu­stand sta­bil oder in­sta­bil. Die­se Un­ter­tei­lung führt zu vier un­ter­schied­li­chen Sys­tem­ty­pen, die je­weils ei­nen an­de­ren Um­gang for­dern:

UnberechenbarkeitUnterschiedliche Systemtypen nach Kruse (2013), S. 41, eigene Darstellung, Lina Thee.

Ein Sys­tem des ers­ten Sys­tem­typs (ein­fach/sta­bil) be­ste­he aus ei­ner „über­schau­ba­ren Zahl von le­dig­lich ge­ring mit­ein­an­der ver­netz­ten Ele­men­ten“[4] und sei in sei­nem Ver­hal­ten vor­her­sag­bar. Als Bei­spiel nennt Kru­se ein Markt­mo­no­pol. Sol­che Sys­te­me könn­ten ge­steu­ert wer­den, da ein­fa­che Ur­sa­che-Wir­kungs-Zu­sam­men­hän­ge vor­lä­gen. Er­hö­he sich die Kom­ple­xi­tät bei gleich­zei­ti­ger Bei­be­hal­tung der Sys­tem­sta­bi­li­tät, gel­te die Han­dlungs­stra­te­gie der Re­ge­lung durch die Mi­ni­mie­rung von Soll-Ist-Ab­wei­chun­gen. Dies tref­fe auf al­le bio­lo­gi­schen Sys­te­me zu, die für ihr Über­le­ben auf die Ein­hal­tung sta­bi­ler Be­din­gun­gen an­ge­wie­sen sind, wie bei­spiels­wei­se der Mensch bei der Re­gu­lie­rung der Kör­per­tem­pe­ra­tur. Weicht der Ist-Zu­stand der Kör­per­tem­pe­ra­tur vom Soll-Zu­stand ab, rea­giert er bei nie­dri­ger Tem­pe­ra­tur mit Zit­tern oder bei ho­her mit Schwit­zen. Bei ei­nem ein­fa­chen, aber in­sta­bi­len Sys­tem kön­nen Ent­wick­lun­gen nicht vor­her­ge­sagt wer­den. Ein sol­ches Sys­tem stel­le bei­spiels­wei­se ein di­rek­ter Stra­ßen­ver­kauf, al­so ein Wett­be­werb mit kurz­fris­ti­ger Er­folgs­aus­sicht, dar. Bei sol­cher­art Sys­te­men kön­ne durch Ver­such und Irr­tum das Ziel er­langt wer­den. Kru­se gibt ei­ne spon­ta­ne Re­pa­ra­tur­si­tua­tion, die oh­ne gro­ße Vor­kennt­nis­se be­wäl­tigt wer­den kön­ne, als wei­te­res Bei­spiel an. Bei nicht funk­tio­nie­ren­den Kü­chen­ge­rä­ten wür­de oft durch Aus­pro­bie­ren das Ge­rät wie­der zum Lau­fen ge­bracht wer­den. Bei kom­plex­en und in­sta­bi­len Sys­te­men (wie dem In­ter­net) wür­den die bis­her vor­ge­stell­ten Reak­tions­for­men der Si­tua­tion nicht ge­recht wer­den und es wür­den in die­sem Fall Selbst­or­ga­ni­sa­tions­kon­zep­te be­nö­tigt, die ei­ne „ei­gen­dy­na­mi­sche Ord­nungs­bil­dung“[5] zu­lie­ßen und un­ter­stütz­ten.

Kom­ple­xi­tät des In­ter­nets ...

In kom­plex­en, in­sta­bi­len Sys­te­men ist so­wohl die An­zahl der ei­ne Si­tua­tion oder ei­nen Zu­stand des Sys­tems be­schrei­ben­den Va­ria­blen als auch die An­zahl der Ak­tions­va­ria­blen des Sys­tems hoch und zu­nächst un­be­stimmt, es be­ste­hen zahl­rei­che Wech­sel­wir­kun­gen (ins­be­son­de­re Rück­kopp­lungs­ef­fek­te) zwi­schen den Va­ria­blen des Sys­tems. Das Sys­tem rea­giert auf exo­ge­ne und endo­ge­ne Fak­to­ren, die Ur­sa­chen für ei­nen be­stimm­ten Sys­tem­zu­stand sind in der Re­gel nicht mo­no­kau­sal.[6] Beim In­ter­net, als ein sol­ches in­sta­bi­les, kom­plex­es Sys­tem, kommt der As­pekt der De­zen­tra­li­tät hin­zu, der die Kom­ple­xi­tät noch wei­ter er­höht und da­mit Än­de­rungs- oder Zer­stö­rungs­ideen ein­zel­ner Ak­teur_in­nen na­he­zu un­mög­lich macht. Im Ge­gen­satz zu ein­fa­chen, sta­bi­len Sys­te­men gel­ten durch die ge­ge­be­ne kom­ple­xe Netz­werk­struk­tur bei in­sta­bi­len Sys­te­men ein­fa­che Ur­sa­che-Wir­kungs-Zu­sam­men­hän­ge nicht mehr. Da­mit sind zu­künf­ti­ge Ge­scheh­nis­se nicht vor­her­seh­bar.

... und die da­mit ver­bun­de­ne Un­be­re­chen­bar­keit der An­grif­fe

Ob ein The­ma oder ein An­griff sich im Netz vi­ru­lent ver­brei­tet und im­mer grö­ßer wird oder durch Nicht­be­ach­tung ab­ebbt und ver­schwin­det, ist im Vor­hi­nein nicht ab­seh­bar, be­re­chen­bar oder kon­trol­lier­bar. Ein pa­ra­do­xes Phä­no­men in die­sem Zu­sam­men­hang ist der „Strei­sand-Ef­fekt“.[7] Im Jahr 2003 woll­te die Schau­spie­ler­in Bar­ba­ra Strei­sand 50 Mil­lio­nen Dol­lar ein­kla­gen, da ein Fo­to ih­res An­we­sens auf ei­ner In­ter­net­sei­te, auf der ei­ne Viel­zahl von Fo­tos der ka­li­for­ni­schen Küs­ten­li­nie ver­öf­fent­licht wur­den, zu se­hen war. Al­ler­dings wur­de erst durch den Rechts­streit der Zu­sam­men­hang zwi­schen ihr und dem Bild her­ge­stellt, zu­vor war nicht klar, dass ihr An­we­sen dort dar­ge­stellt war. Das Bild ver­brei­te­te sich vi­ral im In­ter­net, es gibt so­gar ei­nen Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel zum Strei­sand-Ef­fekt mit be­sag­tem Bild.

Gera­de durch den Ver­such, In­for­ma­tio­nen aus dem Netz zu lö­schen, wird das The­ma erst be­kann­ter und er­hält öf­fent­li­che Auf­merk­sam­keit. Ähn­lich er­ging es Bet­ti­na Wulff, die mit ei­ner An­zei­ge ge­gen Google for­der­te, bei der Such­ver­voll­stän­di­gung nicht mehr ih­ren Na­men mit Pros­ti­tu­tion in Ver­bin­dung zu brin­gen. Erst das recht­li­che Vor­ge­hen ge­gen das Un­ter­neh­men mach­te das The­ma pu­blik.

Macht­lo­sig­keit der Op­fer

Die Merk­ma­le der Ent­gren­zung und der Un­kon­trol­lier­bar­keit der An­grif­fe füh­ren zu dem drit­ten Be­schrei­bungs­merk­mal der „An­grif­fe 2.0“: der Macht­lo­sig­keit der Op­fer. Es be­steht ei­ne gro­ße Dif­fer­enz zwi­schen der An­nah­me da­rü­ber, wie man sich in Si­tua­tio­nen mit Grenz­über­schrei­tun­gen und/oder Ge­walt­er­fah­run­gen ver­hal­ten wür­de und der tat­säch­li­chen Re­ak­tion, wenn die­ser Fall ein­tritt.

Die mei­sten Men­schen schät­zen sich schlag­fer­ti­ger und mu­ti­ger ein, als sie dann in den Si­tua­tio­nen sind. An­ke Dom­scheit-Berg[8] stellt für die Ver­an­schau­li­chung die­ses Um­stan­des ei­ne em­pi­ri­sche Stu­die vor, in der Stu­den­tin­nen über ihr vo­raus­sicht­li­ches Ver­hal­ten bei Be­läs­ti­gun­gen in ei­nem On­line-Chat be­fragt und an­schlie­ßend ihr Ver­hal­ten da­bei beo­bach­tet wur­de.[9] Ob­wohl zwei Drit­tel der Stu­den­tin­nen vor­her an­ga­ben, sie wür­den sich bei Be­läs­ti­gun­gen be­schwe­ren und den Chat um­ge­hend ab­bre­chen, ver­hielt sich nur ei­ne ein­zi­ge der 80 Pro­ban­din­nen dem­ent­spre­chend. Die rest­li­chen 79 Frau­en wehr­ten sich nicht ge­gen die An­grif­fe und führ­ten den Chat fort.[10]

Bei se­xu­el­len Über­grif­fen ge­he es nicht um Sex, son­dern um Macht­de­mon­stra­tion, um De­mü­ti­gung der_s Rang­nie­dri­ge­ren.[11] Gera­de in hie­rar­chi­schen Kon­tex­ten und meist in män­ner­do­mi­nier­ten Ar­beits­fel­dern schwin­ge die Re­gel mit „Ich kann es mir er­lau­ben, dich so zu be­han­deln und du kannst nichts da­ge­gen tun.“[12] Die­ses Nichts-da­ge­gen-tun-kön­nen, das Ge­fühl der Hilf- und Macht­lo­sig­keit bei Über­grif­fen ver­stärkt sich bei di­gi­ta­len An­grif­fen durch die zu­vor be­schrie­be­nen Ei­gen­schaf­ten der Ent­gren­zung und Un­be­rech­en­bar­keit noch ein­mal.

An­grif­fe kön­nen Op­fer von ei­ner Viel­zahl von (un­be­kann­ten) Men­schen tref­fen; eine Wel­le von An­fein­dun­gen, die ei­ne_n al­lein leicht un­ter­ge­hen las­sen kann. Durch den per­ma­nen­ten Strom von In­for­ma­tio­nen im Netz und die feh­len­den Pau­sen kann sich das Stress­le­vel er­hö­hen. Durch die Un­kon­trol­lier­bar­keit der An­grif­fe be­steht die Ge­fahr, dass mehr Angst ent­steht und sich das Ge­fühl der Macht­lo­sig­keit ver­stärkt. Bei di­gi­ta­len An­grif­fen ist durch die Mög­lich­keit der Ano­ny­mi­tät nicht au­to­ma­tisch er­sicht­lich, wo­her die An­fein­dun­gen kom­men. Oh­ne ei­ne phy­si­sche Per­son zu se­hen, ist der_die Tä­ter_in nicht greif­bar, es fällt schwer zu rea­gie­ren. Auch fällt die non­ver­ba­le Kom­mu­ni­ka­tion wie Ges­tik und Mi­mik weg. Nuan­cen des Mit­ein­an­ders, wie Blicke, ei­ne ver­än­der­te Stimm­la­ge oder Kör­per­hal­tung als Re­ak­tion zu zei­gen, ist in die­sem Fall nicht mög­lich.

Re­ak­tio­nen im Netz kön­nen für im­mer ge­spei­chert wer­den (zum Bei­spiel durch einen Screen­shot), was das Ver­hal­ten al­ler User_in­nen be­ein­flus­sen kann. Wird man an­ge­grif­fen, stellt sich die Fra­ge, ob man die nö­ti­gen Res­sour­cen in­ves­tie­ren kann und möch­te, um ge­gen die An­grif­fe vor­zu­ge­hen. Und selbst, wenn man da­zu ent­schlos­sen ist, be­steht Un­si­cher­heit und Un­wis­sen, wie ein kon­kre­tes Vor­ge­hen aus­se­hen könn­te.

In hie­rar­chi­schen Macht­struk­tu­ren konn­te man mit dem Lö­schen (zum Bei­spiel als Mo­de­ra­tor_in in ei­nem Fo­rum) oder der Nicht­be­ach­tung (bei­spiels­wei­se bei E­mails) ver­su­chen, den An­fein­dun­gen den Wind aus den Se­geln zu neh­men und sie da­mit ab­eb­ben zu las­sen. Da Trol­le vor al­lem durch „Freu­de am Ef­fekt“[13] be­ste­hen, wür­de ih­nen lang­wei­lig wer­den und sie wür­den sich ein an­de­res Op­fer su­chen, das rea­giert und mit­spielt, in­dem es auf die Aus­sa­gen des Trolls ein­geht. Die­ses Vor­ge­hen wur­de, vor al­lem zum Zeit­punkt, als die An­grif­fe erst­mals auf­tauch­ten, oft­mals als Stra­te­gie emp­foh­len. Aber in der der­zei­ti­gen Aus­ge­stal­tung ist das Web 2.0 nicht zen­tral steu­er­bar und so­mit un­kon­trol­lier­bar; Lö­schen und Nicht­be­ach­ten kann zu ei­nem Ab­eb­ben der An­grif­fe füh­ren, aber auch zum Ge­gen­teil (sie­he Strei­sand-Ef­fekt). Op­fer ha­ben, so macht­voll sie auch sein mö­gen, kei­nen Ein­fluss auf den Ver­lauf von Dis­kus­sio­nen oder das Set­zen von The­men. Wird bei­spiels­wei­se ein dif­fa­mie­ren­des Fo­to von ei­ner Sei­te ge­löscht, kann es sein, dass es in an­de­ren Fo­ren zig­fach ver­öf­fent­licht wird.

Was das Op­fer auch macht, es gibt kein ein­fa­ches All­heil­mit­tel ge­gen die An­grif­fe. Zieht es sich aus der Dis­kus­sion, heißt das noch lan­ge nicht, dass da­mit das The­ma ver­ges­sen wird. Ge­nau­so kann jeg­li­cher Kom­men­tar des Op­fers, wenn es sich den An­fein­dun­gen stellt, von den Tä­ter_in­nen wie­der­um für neue An­grif­fe ver­wen­det wer­den. Die­ses Feh­len von be­währ­ten Stra­te­gien ge­gen An­grif­fe kann Op­fer wehr­los zu­rück­las­sen.

„Lässt man sich auf die Trol­le ein, wer­den die­se In­di­vi­duen nur noch mehr an­ge­spornt. Don’t feed the trolls [Her­vor­he­bung im Ori­gi­nal] ist des­halb die ers­te Re­gel im Um­gang mit ih­nen: Die Trol­le nicht füt­tern, son­dern ig­no­rie­ren oder gleich aus­sper­ren.“ (Reiss­mann et al. (2012): S. 27).